Persönliche Krisen bearbeiten – in der Therapie, im Coaching oder in der Selbstarbeit. Mit Hilfe von 60 Karten und Coaching-Impuls-Fragen anspruchsvoll, kreativ und lösungsorientiert. Wie geht das?
Ein Interview mit Dr. Martin Hartmann
Guten Tag Dr. Hartmann. Mit Kalendersprüchen schwere persönliche Krisen bearbeiten? Wie muss man sich das vorstellen?
Kalendersprüche – das klingt nach Biedermeier oder Küchenpsychologie. Wenn es so einfach wäre! Menschen in einer Krise – denken Sie an die Diagnose einer schweren Krankheit, an einen Jobverlust oder die Verweigerung einer fest eingeplanten Beförderung. Sie suchen professionelle Hilfe. Neben fachlicher Unterstützung in der Sache – durch Ärzte, juristischen Beistand, Berater, aber auch Freunde und Bekannte – geht es immer auch um Unterstützung für die Seele, für das innere Verarbeiten des Geschehens. Das können die Therapeutin, der Psychologe oder Coach leisten. Sie alle haben – vorausgesetzt sie sind gut ausgebildet – eigene, sorgfältig entwickelte Vorgehensweisen, um mit Betroffenen in einer Krise zu arbeiten.
Und da können Zitate aus der Literatur helfen? Beispielsweise gleich das erste auf Ihren Karten „Es ist ein Geist des Guten in dem Übel, zög ihn der Mensch nur achtsam da heraus“.
Auf jeden Fall. Wichtig dabei ist: Die vorliegenden Sprüche und Aphorismen brauchen nicht besonders eingängig und nett sein. Sie kommen „mit einem Stachel“ daher, sind eher krumm, widerborstig und provokativ, aber auch sehr facettenreich. Gleichzeitig ziehen sie an, lassen die Leserin und den Leser stutzen, bringen sie zum Nachdenken, eröffnen dabei ganz neue Erkenntnisse über die eigene Situation und zeigen Möglichkeiten, damit weiter umzugehen.
Wie kann man sich die Arbeit mit den Coaching-Impuls-Karten vorstellen?
Ein Beispiel aus dem Arbeitsleben: Jemand definiert fühlt sich nach einem Jobverlust ausschließlich als Opfer in einer vollkommen aussichtslosen Lage. Hier kann der Coach gezielt die Karten auswählen, mit denen das Krisengeschehen unter dem Blickwinkel „Gefahr und/oder Chance“ betrachtet werden kann. Die Zitate, Sprüche und Aphorismen dienen dabei als „Türöffner“: Sie bereiten den Boden für einen anregenden und vielfältigen Dialog.
… dessen weitere Qualität dann in den Händen der Gesprächsleitung liegt?
Durchaus. Hier hilft der Kartenset. Bei allen 60 Karten finden sich auf der Rückseite bis zu 20 sorgfältig ausgewählte Impuls-Fragen. Sie richten die vielfältigen Facetten des ausgewählten Zitats auf das Erleben und den Umgang mit der persönlichen Krise aus.
Ist es hilfreich, den literaturhistorischen Hintergrund der einzelnen Zitate zu kennen?
Nein. Shakespeare lässt seinen König Heinrich V. im englischen Lager zu Azincourt sagen: „Es ist ein Geist des Guten in dem Übel, zög ihn der Mensch nur achtsam da heraus“. Mit diesem Satz lässt sich, ganz losgelöst vom Drama des Dichters oder den Ereignissen in Nordfrankreich zu Beginn des 15. Jahrhunderts, vortrefflich im Krisengespräch arbeiten.
Wie kann man sich das vorstellen?
Natürlich immer abhängig von der besonderen Krisensituation, in der das Zitat zum Leben erweckt und „auseinandergenommen“ werden soll. In dem Shakespeare-Zitat kann eine erste Diskussion darüber stattfinden, was es denn mit dem „Übel“ und dann auch mit dem „Geist des Guten“ in der konkreten Krise auf sich haben könnte. Später dann: Wie könnte in der Krise ein „achtsames Herausziehen“ aussehen? Welche „Menschen“ kämen dafür infrage? Welche nicht? Sie sehen, es gibt sehr viele Möglichkeiten, mit den Sprüchen auf Entdeckung zu gehen. Wichtig: Nicht die Worte für sich entfalten eine heilende Wirkung, es ist immer die Auseinandersetzung damit, um die es geht, der zweite Blick, eine weitere Sinnschicht, die hinter dem Vordergründigen entdeckt und fruchtbar gemacht wird.
Bei diesem Zitat kann man sich also gut ein Gespräch über die Gefahren, aber auch Chancen einer persönlichen Krise vorstellen. Welche anderen Aspekte einer Krise werden mit den Zitaten behandelt?
Mit den 60 Sprüchen können sie natürlich beliebig viele Aspekte einer Krise ansteuern, das hat mit der Offenheit der Betroffenen, der Gesprächssteuerung der Helfenden und unbedingt auch mit Art und Schwere der Krise zu tun. Grob jedoch decken die Zitate und Sprüche fünf Kompetenzfelder ab, die ganz hilfreich für die „erfolgreiche“ Bewältigung einer Krise sind. In Stichworten:
- Krise = Gefahr und Chance: Eine Perspektive wählen, weitere entwickeln!
- Der Blick nach innen: Sich selbst in der Krise verorten, das Selbstbild beschreiben, weiterentwickeln können!
- Aktiv werden: Handeln, etwas tun, etwas bewegen!
- Begleitung in der Krise: Andere Menschen einbinden!
- Für sich Gutes tun: Mit Belastungen fertig werden!
Es gibt Therapeuten und Coaches, die arbeiten in Krisengesprächen mit Bildern, um mit Betroffenen über belastende Situationen ins Gespräch zu kommen. Sind Ihre Zitate und Aphorismen dagegen eher etwas für „Kopfmenschen“? Menschen, die über alles erst einmal ausführlich nachdenken und alles im Für und Wider durchreflektieren müssen?
So dachte ich vor einigen Jahren auch. Ich konnte jedoch erleben, dass alle Arten von „Kopf- und Bauchmenschen“, waren sie einmal bereit, sich in einer geschützten Atmosphäre auf das Arbeiten mit Sprüchen einzulassen, ganz „verrückt-kreative“ Ideen aus den Zitaten entwickeln konnten. Damit zusammen hängt sicherlich die Beobachtung, dass Menschen in Krisen – nachdem sich in der Anfangsphase der erste Schock und die erste Sprachlosigkeit gelegt haben – extrem feinfühlig für Anregungen von außen sind. So entstehen in einer anregenden und geschützten Umgebung, wie sie ein Coach schafft, überraschende, neue Gedanken und neuartige Perspektiven auf das eigene Erleben. Modern gesagt: Die Bereitschaft zu disruptiver Veränderung wächst in der Krise. Das gilt natürlich auch für Bildkarten, die ich sehr schätze – ich selbst habe ja auch ein Kartenset mit Fotos für Coachings in Rhetorik erstellt.
Sie sprachen von Phasen in einer Krise. In welche Phase einer Krise passt die Arbeit mit den Spruchkarten?
Krisenforscher haben unterschiedliche Phasen beschrieben, die Menschen in Krisen „normalerweise“ durchlaufen. Hier nur sehr verkürzt: Phase 1 – Das Ereignis ist eingetreten, der Schock ist da, ein Gefühlschaos aus Angst, Panik, Verzweiflung, Scham, Wut oder sogar Hass entsteht. Dem kann eine Zeit des (auch sozialen) Rückzugs, der Starre und inneren Leere folgen. Trauer über den Verlust von liebgewonnenen Gewohnheiten oder einer wie immer gedachten Zukunft treten auf. So langsam beginnt aber auch die innere Verarbeitung, mal mehr oder weniger intensiv von Menschen begleitet. Phase 2 – Die neue Situation wird nicht mehr geleugnet, kann benannt und akzeptiert werden. Vor allem kann sie zunehmend reflektiert, in ihrer Komplexität beschrieben und auf Handlungsspielräume hin durchdacht werden. Phase 3 – Irgendetwas ist anders geworden. Veränderungen sind spürbar, ein neuer Selbst- und Weltbezug entsteht.
Es sollte deutlich sein: In dem Augenblick, in dem Betroffene in ein Coaching- oder Therapiegespräch eintreten, ist auch die Arbeit mit den Spruchkarten möglich. Die konkreten Themen im Gespräch dürften sich dabei unterscheiden, je nachdem ob das Ereignis in der ersten Phase noch frisch „in den Knochen steckt“ oder ob in der dritten Phase mit etwas Abstand über Konsequenzen aus dem Erleben der letzten Monate gesprochen wird.
Ein für Sie eindrucksvolles Erlebnis bei der Arbeit mit den Karten?
Eine Managerin mit Krebs-Diagnose hatte in Selbstarbeit über mehrere Wochen hinweg einige der Karten immer wieder mal gelesen und für sich mit den Fragen gearbeitet. Irgendwann rief sie mich an und meinte zum Abschluss des Gesprächs: „Ach ja! Der Spruch ‚Die Menschen, denen wir eine Stütze sind, die geben uns Halt im Leben.‘ hatte mich anfangs außerordentlich geärgert. Wozu denn die anderen? Nach einigen Tagen hatte ich jedoch begriffen, was da mit mir und in meinem sozialen Umfeld gerade passiert. Lassen Sie den Spruch unbedingt drin, wenn Sie die Karten publizieren …!
Die Coachingkarten eigenen sich auch für die Selbstarbeit?
Entwickelt wurden sie in erster Linie für Coaching- oder Therapiegespräche. In einem solchen Rahmen bieten sie sehr viele Möglichkeiten, die eigene Krise zu durchdenken und zu „durchfühlen“. Aber natürlich können die Impulsfragen zu den einzelnen Sprüchen auch dazu anleiten, im stillen Kämmerlein einmal ganz ehrlich und in Ruhe – denn das ist wichtig – das eine oder andere hilfreiche Krisenselbstgespräch zu führen. Jeder Mensch in einer Krise profitiert auf ganz eigene Art davon. Zudem gilt: Selbstarbeit kann ein Gespräch auch unterstützen.
Ihr Lieblingsspruch?
Nach dem doch langen Zeitraum, in dem ich mich mit den Zitaten angefreundet oder auch etwas herumgeärgert habe, vielleicht diese beiden hier: Einmal ein Spruch aus Israel: „Mach dich nicht so klein. So groß bist du auch wieder nicht“, und Heinrich Heine: „Wenn du den Hahn einsperrt, geht die Sonne doch auf.“
Über Dr. Martin Hartmann
Dr. Martin Hartmann; nach Hochschultätigkeit Projektleiter in der Medienforschung und -beratung; knapp drei Jahre als Journalist und Fotograf in London tätig; Trainer und Coach mit den Schwerpunkten Rhetorik, Interviewtechniken und Krisenkommunikation für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Unternehmen. Publikationen zu den Themen „Präsentieren“, Meetings leiten“, „Kompetenzen im Beruf“ für den BELTZ-Verlag. Der Autor lebt in Potsdam.
Martin Hartmann
Krisen bearbeiten – in Krisen coachen
Kreativ und anregend die Kraft starker Zitate nutzen.
60 Karten und Booklet inklusive digitaler Version
BELTZ Verlag 2021